Die Katze ist aus dem Sack. Lange hat sich die EU-Kommission vor der Entscheidung gedrückt. In der Silvesternacht, kurz vor Mitternacht, hat sie endlich bekanntgeben, dass Kernenergie und Gas im Sinne der Taxonomie (unter bestimmten Voraussetzungen) als nachhaltig eingestuft werden sollen. Das Vorgehen lässt vermuten, dass die EU-Kommission nicht viel und nicht lange darüber diskutieren möchte. Der Konsultationsprozess ist nicht öffentlich, die Frist für Einwände läuft nur bis zum 12. Januar 2022.
Frankreich, das 70 Prozent seines Stromes aus Atomkraft erzeugt, hat sich durchgesetzt. Kernenergie wird „die Transition zu kohlenstoffarmen Energiesystemen erleichtern“, schreibt die EU-Kommission in ihrer Pressemitteilung. Reflexartig äußert Österreichs Umweltministerin Leonore Gewessler ihren Unmut über diesen Plan. Sie möchte die EU sogar verklagen. Rechtsexperten räumen dieser Idee jedoch keine Erfolgschancen ein. Wie schon Bundeskanzler Karl Nehammer martialisch prophezeite: „Wahrscheinlich verlieren wir diesen Krieg.“ Er wird Recht behalten.
Gegen das Einstufen von Kernenergie als „grün“ und nachhaltig zu klagen, mutet zudem ein wenig schizophren an. Österreich muss, gerade in den Wintermonaten, Atomstrom importieren, weil unsere Wasserkraftwerke bei Niedrigwasser zu wenig Strom erzeugen. Atomstrom importieren und konsumieren, aber gleichzeitig gegen die Erzeugung von Atomstrom zu sein, erscheint mir nicht ganz schlüssig. „Wasser predigen und Wein trinken“, fällt mir dazu ein.
Deutschland, das Ende 2021 drei weitere Atomkraftwerke vom Netz genommen hat, ist ebenfalls nicht begeistert über die Pläne, Kernenergie „grün“ werden soll. Die deutschen Grünen stellen sowohl den Klimaschutzminister (Robert Habeck, B90/Die Grünen) als auch die Umweltministerin (Steffi Lemke, B90/Die Grünen). Da liegt es in der Natur der Sache, dass man die Pläne der EU-Kommission nicht unterstützen will. Allerdings auch nicht dagegen klagen.
Immerhin bekommen auch die Deutschen, was sie wollen. Der fossile Energieträger Gas soll ebenfalls als „grün“ und nachhaltig eingestuft werden. Irgendwie muss Europas größte Wirtschaftsnation ja die Grundlastversorgung von Industrie und Bevölkerung sicherstellen, wenn Ende 2022 die letzten Atomkraftwerke vom Netz gehen und der Ausstieg aus Kohlestrom beschlossene Sache ist. Da trifft es sich zufälliger Weise gut, dass die umstrittene Erdgas-Pipeline „Nordstream 2“ in Deutschland endet.
Der Green Deal der EU bekommt also wahrscheinlich eine weitere Delle und verliert weiter an Glaubwürdigkeit. Oder, positiv formuliert, gewinnt an Realitätsnähe. Mit „Wackelstrom“ aus Wind- und Sonnenkraft ist der europäische Strombedarf, der sich in den kommenden Jahren zusätzlich vervielfachen wird, nicht stabil zu decken. Diese Erkenntnis scheint sich, allen grünen Träumen zum Trotz, auch in Brüssel mehr und mehr durchzusetzen. Willkommen in der Realität.
Externer Link zur Pressemitteilung der Europäischen Kommission