Beim Regelwerk für Sustainable Finance läuft es gar nicht nach Plan
Die Ziele des europäischen Grünen Deals sind epochal. Entsprechend dicht ist das zugehörige Regelwerk. Vielleicht sind die Ziele der EU aber doch ein wenig zu hoch angesetzt. Denn die Probleme beim Umsetzen in die Praxis werden zunehmend sichtbar. Auch erste Kritik von höchster Ebene ist zu vernehmen.
Noch im Sommer 2021 zeigten Studien, dass nachhaltige Finanzprodukte jedem zweiten Anleger wichtig sind. Ein Jahr später wird das Interesse an Nachhaltigkeit bei der Geldanlage von anderen Alltagssorgen gedämpft. Hohe Inflationsrate, steigende Energiepreise sowie der Ukraine-Konflikt, der den Finanzmärkten und nachhaltigen Finanzprodukten Kursverluste beschert, führen dazu, dass viele Investoren wieder Risiko und Rendite in den Fokus stellen.
Immer mehr Anleger stellen sich zudem die Frage, ob „hellgrüne“ und „dunkelgrüne“ Finanzprodukte im Sinne der EU-Kriterien tatsächlich halten was sie versprechen. Die Zahl jener, die Klima- und Umweltschutz bei der Geldanlage als Modetrend – um nicht zu sagen als Werbe-Schmäh – betrachten, nimmt zu. Zumindest Skepsis macht sich unter Investoren breit. Befeuert wird diese Skepsis durch Berichte über Klagen von Verbraucherschutzverbänden gegen große Fondshäuser und Geldbußen wegen Verdacht auf Greenwashing.
Ein Blick in die Produktinformationen, beispielsweise von Investmentfonds, zeigt außerdem, dass zahlreiche Fonds, die nachhaltige Investitionen anstreben (sich also mit dem Attribut „Artikel 9“ bzw. „dunkelgrün“ schmücken), tatsächlich nur sehr geringe Mindestanteile an nachhaltigen Investitionen enthalten.
Die ab 1. Januar 2023 im European ESG Template, einem einheitlichen Datenformat, verpflichtend offenzulegenden Daten weisen manchmal nur 1 (!) Prozent Mindestanteil an tatsächlich nachhaltigen Investitionen aus. Das ist lächerlich wenig. Welcher Kunde gibt im Rahmen der Abfrage der Nachhaltigkeitspräferenzen an, dass er zu einem Mindestanteil von 1 Prozent Taxonomie-konform investieren möchte?
Neuer Trend: Greenbleaching
Den Produktherstellern ist kein Vorwurf zu machen. Sie sind die Leidtragenden der nach wie vor unvollständigen und lückenhaften Regularien. Verschwindend geringe Mindestanteile an EU-konformen Investitionen und Herabstufungen von Finanzprodukten von Artikel 9 auf Artikel 8 („hellgrün“) sind direkte Folgen der Versäumnisse des europäischen Gesetzgebers. Immer mehr Fondsanbieter, beispielsweise DEKA, Amundi und DWS, verzichten angesichts der regulatorischen Unsicherheiten auf die Kennzeichnung als „dunkelgrün“.
Im Final Report der Europäischen Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde ESMA zu den Leitlinien zur MiFID II-Eignungsbeurteilung taucht der Begriff „Greenbleaching“ auf. Gemeint ist damit die Vorgehensweise von Fondsmanagern, zwar in nachhaltige Wirtschaftstätigkeiten zu investieren, dies aber nicht anzugeben (also auf das Attribut „Artikel 8/9“ zu verzichten), um jene Datenprobleme, Berichtspflichten sowie Aufsichts- und Rechtsrisiken zu vermeiden, die sich aus den unvollständigen EU-Regularien ergeben. Die Behörde wurde gefragt, wie sie damit umzugehen gedenkt, schien aber überrascht und antwortete ausweichend.
Kritik und Widerspruch
Niemand geringerer als Verena Ross, Vorsitzende der ESMA, äußerte Kritik am ESG-Regelwerk der EU. Sie bezeichnete das bestehende Regelwerk als „echte Herausforderung“ und stellte fest, dass es für die Marktteilnehmer „extrem schwierig“ sei, sich darin zurechtzufinden.
Ins selbe Horn stößt die Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen EIOPA in den neuen Leitlinien zur Eignungsbeurteilung: „Wichtige Regulierungsinitiativen zur Ermittlung und ordnungsgemäßen Offenlegung von Investitionen in nachhaltige Wirtschaftstätigkeiten, auch im Rahmen der EU-Taxonomie, sind noch nicht abgeschlossen.“, gibt die ranghohe Aufsichtsbehörde unverblümt zu.
Mark Branson, Präsident der deutschen Finanzdienstleistungsaufsicht BaFin, kommt in einem Kurzkommentar zum Schluss, dass „ein einfaches Labelling ‚grün‘ oder ‚nicht-grün‘ kaum den heterogenen und unterschiedlich differenzierten Präferenzen von Anlegern gerecht werden kann.“ Auf EU-Ebene wird bereits über eine diesbezügliche Erweiterung der Taxonomie diskutiert. Einfacher wird das Selektieren nachhaltiger Wirtschaftstätigkeiten auf Basis von EU-Kriterien damit sicher nicht.
Am 27. Oktober 2022 verkündete die EU-Kommission das Aus für PKW mit Verbrennungsmotoren ab dem Jahr 2035. Nur eine Woche später, am 4. November, warnt EU-Binnenmarkt-Kommissar Thierry Breton vor Elektroautos und ermutigt Hersteller, weiterhin Autos mit Verbrennungsmotoren zu bauen. Planungssicherheit für die (Automobil-)Wirtschaft sieht anders aus.
Unvollständige Taxonomie
Die Vertreter der Aufsichtsbehörden sprechen Tatsachen an, die die Finanzindustrie derzeit vor enorme Herausforderungen stellt. Im Sinne des europäischen Grünen Deals sollen Anlagegelder verstärkt in nachhaltige Investitionen umgelenkt werden. Die EU-Offenlegungsverordnung definiert dazu nachhaltige Investitionen auf Basis der ESG-Kriterien: nachhaltig ist eine Wirtschaftstätigkeit dann, wenn sie dem Erreichen von Umweltzielen (Environmental) oder sozialen Zielen (Social) dient und dabei Aspekte der guten Unternehmensführung (Governance) beachtet werden sowie gleichzeitig keines der anderen Ziele erheblich beeinträchtigt wird.
Sechs Umweltziele hat die EU-Kommission in der Taxonomie festgelegt. Es fehlen jedoch soziale Ziele und die Aspekte der guten Unternehmensführung. Über die Sozial-Taxonomie wird, auf Basis von Vorschlägen der Platform on Sustainable Finance, einem vielköpfigen Beratungsgremium, bis dato diskutiert. Schuldig bleibt der europäische Gesetzgeber auch die meisten Bewertungskriterien zu den bekannten Umweltzielen. Für zwei gibt es diese seit Anfang 2022, für die restlichen vier Umweltziele sollen die Bewertungskriterien am 1. Januar 2023 folgen. Dieser Termin wird jedoch nicht halten.
Wie sollen Asset Manager also EU-konform im Sinne der ESG-Kriterien investieren, wenn ihnen die EU das dazu notwendige Regelwerk schuldig bleibt?
Fehlende Unternehmensdaten
Selbst vollständige Regelwerke würden das Problem für Hersteller von nachhaltigen Finanzprodukten nicht lösen. Vollständige ESG-Ziele und zugehörige Bewertungskriterien sind die eine Sache, um aber in deren Sinne nachhaltige Investments zu bestimmen, müssten Unternehmen ihre Nachhaltigkeitsinformationen Taxonomie-konform berichten. Die Pflicht dazu gibt es aber noch nicht.
Auf die neuen Regeln zur nicht-finanziellen Berichterstattung, in Form der Corporate Sustainability Reporting Directive CSRD, haben sich die EU-Institutionen zwar politisch geeinigt, die fertige Richtlinie lässt jedoch auf sich warten. Damit sie von den Unternehmen angewendet werden kann, muss diese Richtlinie von den einzelnen EU-Mitgliedstaaten zuerst in nationales Gesetz umgewandelt werden. Planmäßig sollen Unternehmen erstmals im Jahr 2025 über das Jahr 2024 berichten, Unternehmen aus Drittländern mit einem Nettoumsatz von mehr als 150 Millionen Euro in der EU sogar erst 2029 über 2028.
Breit streuende ESG-Ratings
So lange können Asset Manager natürlich nicht auf jene Unternehmensdaten warten, die sie schon heute für die Selektion nachhaltiger Unternehmen benötigen. Also kaufen sie ESG-Daten von Rating-Anbietern, wie beispielsweise Refinitiv/Reuters, MSCI oder Sustainalytics, zu. Dabei stellt sich die Frage, wie EU- bzw. Taxonomie-konform die gelieferten Daten sind. Man darf sich auch fragen, woher die Datenlieferanten ihrerseits die Unternehmensdaten beziehen, noch dazu weltweit von Unternehmen, die den europäischen Pflichten gar nicht unterliegen.
In der Praxis sowie im Vergleich der zahlreichen Anbieter von ESG-Ratings zeigt sich, dass die Ratings sehr breit streuen. Ein und dasselbe Unternehmen wird von einem Anbieter als mittelmäßig nachhaltig bewertet, von einem anderen Anbieter hingegen hochgradig nachhaltig. Eine Studie des Massachusetts Institute of Technology (MIT) kommt zum Ergebnis, dass die Korrelation von ESG-Ratings bei sechs verschiedenen Anbietern im Durchschnitt bei gerade einmal 0,54 liegt. Den Daten welchen Anbieters ist tatsächlich Glauben zu schenken?
Vorsicht mit „grünen“ Etiketten
Nun könnte man angesichts dieses Daten-Dilemmas sagen, wir lassen Gnade vor Recht ergehen, bemühen uns nach bestem Wissen und Gewissen und nähern uns der nachhaltigen Wahrheit bei Unternehmensdaten im Verlauf der kommenden Jahre und Regulierungen schrittweise an. So genau wird, gerade jetzt in der Frühphase des nachhaltigen Investierens sowie angesichts der unvollständigen Regelwerke, schon niemand hinschauen.
Dieser falschen Hoffnung sollten man nicht erliegen. Aufsichtsbehörden ebenso wie Rechtsanwälte und Verbraucherschützer schauen heute schon sehr genau auf „grüne“ Aussagen. Nicht zuletzt, weil unabhängig von Taxonomie & Co. das Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb gilt.
In ihrem Supervisory Briefing vom 31. Mai 2022 weist die ESMA die nationalen Aufsichtsbehörden darauf hin, dass Fondsnamen nicht irreführend sein sollen. Begriffe wie „ESG“, „grün“, „nachhaltig“, „sozial“ oder „ethisch“ sollten nur dann verwendet werden, wenn sie durch Nachweise von Nachhaltigkeitsmerkmalen, -themen oder -zielen wesentlich unterstützt werden, die sich in den Anlagezielen und der Anlagepolitik des Fonds angemessen und konsistent widerspiegeln.
Die deutsche Verbraucherzentrale Baden-Württemberg wirft der Deutsche Bank-Tochter DWS Greenwashing vor und klagt gerichtlich wegen irreführender Werbung. Rechtsanwälte mahnen zu größter Vorsicht im Zusammenhang mit „grünen“ Werbeaussagen. Auch Beratern ist zu empfehlen, Begriffe wie „umweltfreundlich“, „nachhaltig“ und „klimaschonend“ im Kundengespräch sowie auf ihrer Internetseite wohlüberlegt und nicht zu euphorisch zu verwenden.
Der Vorschlag für eine neue EU-Verbraucherschutz-Richtlinie vom 30. März 2022 geht noch weiter. Ziel der Anpassungen ist es, Verbraucher für den ökologischen Wandel durch besseren Schutz gegen unlautere Praktiken zu stärken (Zitat aus der Überschrift des Richtlinien-Entwurfes). Dazu sollen allgemeine Umweltaussagen, denen keine anerkannte hervorragende (sic!) Umweltleistung zu Grunde liegt, verboten werden.
Als Beispiele für allgemeine Umweltaussagen, die in dieser Kurzform zu wenig konkret sein sollen, zählt der Richtlinien-Entwurf so gut wie alle bekannten Nachhaltigkeitsbegriffe auf: „umweltfreundlich“, „umweltschonend“, „öko“, „grün“, „naturfreundlich“, „ökologisch“, „umweltgerecht“, „klimafreundlich“, „umweltverträglich“, „CO2-freundlich“, „CO2-neutral“, „CO2-positiv“, „klimaneutral“, „energieeffizient“. Auch der auf Verpackungen oft gesehene Hinweis „biologisch abbaubar“ ist dann viel zu allgemein und in dieser lapidaren Form nicht mehr erlaubt.
Nachhaltigkeit in der Lieferkette
Seit 23. Februar 2022 liegt der Entwurf für eine Richtlinie über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit (Corporate Sustainability Due Diligence Directive CSDDD), auch bekannt als EU-Lieferkettengesetz, vor. Für Unternehmen sind darin hinsichtlich tatsächlicher und potenziell negativer Auswirkungen von Geschäftstätigkeiten auf Menschenrechte und Umwelt weitreichende Sorgfaltspflichten vorgesehen.
Umfasst von den Sorgfaltspflichten sind die eigenen Tätigkeiten der Unternehmen sowie die Tätigkeiten ihrer Tochterunternehmen und – jetzt kommt der Hammer! – die Tätigkeiten von (allen) Unternehmen in der (globalen) Wertschöpfungskette, mit denen das jeweilige Unternehmen eine etablierte Geschäftsbeziehung unterhält.
Das am 1. Januar 2023 in Kraft tretende deutsche Lieferkettengesetz beschränkt sich auf die erste Ebene der Lieferkette, also auf direkte Lieferanten. Die Pläne der EU sehen hingegen die Betrachtung der gesamten, weltweiten Lieferkette vor. Da verwundert es nicht, dass die europäische Wirtschaft gegen diese Pläne Sturm läuft. Denn Unternehmen sollen auch für Verstöße gegen die gesetzlichen Verpflichtungen haften. Wie das in der Praxis in unserer global vernetzten Wirtschaft überhaupt funktionieren kann, fragen sich auch Experten zurecht.
Berichtsirrsinn
Eigentlich hätte die Finanzindustrie die Technischen Regulierungsstandards, kurz RTS, zur Offenlegungs-Verordnung schon am 10. März 2021, dem Start der nachhaltigkeitsbezogenen Offenlegungspflichten, benötigt. Seit 15. August 2022, also mit fast eineinhalb Jahren Verspätung, gibt es sie in Form der Delegierten Verordnung (EU) 2022/1288 endlich. Gleichzeitig mit der Veröffentlichung gab die EU-Kommission eine erste Überarbeitung der RTS in Auftrag. Kernenergie und Gas werden bekanntlich (unter bestimmten Voraussetzungen) als nachhaltig eingestuft, diese Neuerung muss in die RTS nachträglich eingearbeitet werden.
Auf Basis der in den RTS enthaltenen Vorlagen veröffentlichen Finanzmarktteilnehmer ab 1. Januar 2023 detaillierte nachhaltigkeitsbezogene Informationen für ihre Finanzprodukte. Ab 30. Juni 2023 finden diese Informationen auch Einzug in die regelmäßigen bzw. jährlichen Berichte der nachhaltigen Finanzprodukte. Dabei müssen in einem bemerkenswerten Detailgrad auch Informationen zu nachhaltigen Auswirkungen auf Nachhaltigkeitsfaktoren, kurz PAIs, offengelegt werden, wie zum Beispiel der CO2-Fußabdruck eines Investments und die Treibhausgas-Emissionsintensität der Unternehmen, in die investiert wird.
Es reicht außerdem nicht, diese Werte einmal im Jahr aus den Nachhaltigkeitsberichten der investieren Unternehmen herauszulesen, nein, es muss der Durchschnittwert der quartalsweise erhobenen Werte berichtet werden. Ein enormer Aufwand für Produkthersteller. Dazu kommt das Problem, dass viele der verlangten Daten auf Grund fehlender Regularien, Stichwort CSRD und einheitlicher europäischer Berichtsstandard, noch gar nicht verfügbar sind.
Es hat den Anschein, dass sich die Katze in den sprichwörtlichen Schwanz beißt. Die Motivation der Produkthersteller, EU-konforme nachhaltige Finanzprodukte anzubieten, nimmt folglich eher ab als zu. Dazu kommen Anleger, die statt auf Nachhaltigkeit bei der Geldanlage wieder mehr auf Risiko und Rendite achten.
Risiken und Herausforderungen
Zum enormen Aufwand gesellen sich aufsichts- und zivilrechtliche Risiken, die dazu führen, dass auch die Compliance- und Rechts-Abteilungen der Produkthersteller auf der Bremse stehen. Asset Manager sehen sich mit der Unmöglichkeit konfrontiert, bis in alle Details EU-konform nachhaltig zu investieren.
Zumal auf Grund der fehlenden Bewertungskriterien – die es bis dato nur für zwei von sechs Umweltzielen sowie für nur etwa 100 ausgewählte Wirtschaftstätigkeiten gibt – viele potenzielle Zielinvestments schlichtweg durch den Rost fallen. Gibt es für eine Wirtschaftstätigkeit keine Bewertungskriterien, ist sie – selbst, wenn sie in der Realität noch so „grün“, klimaneutral, usw. ist – nicht Taxonomie-konform. Wird das Attribut „Artikel 9“ angesichts dieser massiven regulatorischen Lücken gar zum Rohrkrepierer?
Wo bleibt die Wirksamkeit?
In all den Regularien sowie dem verständlichen Bestreben von Produktherstellern und Finanzberatern, aufsichts- und zivilrechtliche Risiken zu vermeiden, geht der wesentlichste Aspekt von Sustainable Finance und Nachhaltigkeit komplett unter: die tatsächliche Wirksamkeit für Klima und Umwelt.
Schade, denn die Idee des nachhaltigen Investierens ist grundsätzlich gut. Aber leider verbockt die EU die praktikable und rechtssichere Umsetzung.
Dieser Beitrag ist erstmals in der Dezember-Ausgabe des Magazins risControl erschienen.