Was ist Beratung und was noch nicht?
Mitten im Sommerloch, am 11. Juli 2023, hat die ESMA ihr 38-seitiges Supervisory briefing on understanding the definition of advice under MiFID II veröffentlicht. Dieses Briefing enthält die aufsichtlichen Erwartungen der ESMA und der nationalen Aufsichtsbehörden in Bezug auf Wertpapierfirmen, einschließlich Kreditinstitute, OGAW-Verwaltungsgesellschaften und Verwalter alternativer Investmentfonds, die Anlageberatung für Kunden anbieten.
„Der Inhalt dieses aufsichtlichen Briefings unterliegt keinem „comply or explain“-Mechanismus für die nationalen Aufsichtsbehörden und ist nicht bindend, obwohl er einen klaren Hinweis auf die Erwartungen bezüglich des Verständnisses von Anlageberatung durch Firmen gibt„, schreibt die ESMA einleitend. Beaufsichtigte Unternehmen tun trotzdem gut daran, sich an den Ausführungen zu orientieren bzw. vorhandene Prozesse zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen.
Fünf essentielle Fragen
Liegt tatsächlich eine Anlageberatung vor? Zur Beantwortung dieser zentralen Frage skizziert die ESMA einen Test mit fünf Schlüsselfragen:
- Stellt die angebotene Dienstleistung eine Empfehlung dar?
- Bezieht sich die Empfehlung auf ein oder mehrere Geschäfte mit Finanzinstrumenten?
- Wird die Empfehlung als geeignet dargestellt?
- Wird die Empfehlung nicht ausschließlich gegenüber der Öffentlichkeit abgegeben?
- Wird die Empfehlung an einen Anleger oder potenzieller Anleger abgegeben?
Bei der Beurteilung, ob eine Anlageberatung vorliegt, muss unter anderem berücksichtigt werden, ob der Kunde vernünftigerweise annehmen könnte, dass eine persönliche Empfehlung abgegeben wird. Die ESMA stellt fest, dass die Beschreibung einer Dienstleistung als nicht beratend allein nicht ausreicht, um sicherzustellen, dass die erbrachten Dienstleistungen nicht auf eine Anlageberatung hinauslaufen. Die Tatsache, dass es sich um eine Empfehlung handelt, muss dem Anleger nicht ausdrücklich mitgeteilt werden, und der Anleger muss der Empfehlung nicht Folge leisten, damit sie als Empfehlung angesehen werden kann.
Ein wichtiger Punkt, den eine Firma berücksichtigen muss, ist laut ESMA die Frage, ob ihre Mitarbeiter mit Kundenkontakt verstehen, dass sie bei der Bereitstellung von Informationen für Kunden keine eigenen Ansichten oder Empfehlungen über die Eignung eines bestimmten Finanzinstruments für den Kunden abgeben sollten. Indem sie die Absicht der Firmen, keine Ratschläge zu erteilen, bei der Schulung und Beaufsichtigung der Mitarbeiter berücksichtigen, können die Firmen versuchen, das Risiko persönlicher Empfehlungen durch Einzelpersonen einzudämmen.
Unterschied zwischen der Erteilung von Informationen und der Abgabe einer Empfehlung
Eine Empfehlung erfordert im Sinne der ESMA ein Element der impliziten oder expliziten Anregung seitens des Beraters. Eine Beratung beinhaltet in der Tat eine Empfehlung für eine Vorgehensweise, die im Interesse des Kunden liegen kann oder soll.
Bei der Information hingegen handelt es sich um die Angabe von Tatsachen oder Zahlen. Im Allgemeinen ist die bloße Übermittlung objektiver Informationen, ohne einen Kommentar, ein Werturteil oder einen Vorschlag zu ihrer Relevanz für die Entscheidungen eines Anlegers abzugeben, keine Empfehlung.
Wann könnte die Weitergabe von Informationen an einen Kunden eine Empfehlung darstellen?
Die Erteilung von Informationen kann einer Empfehlung gleichkommen, wenn die Umstände, unter denen die Informationen erteilt werden, sie als Empfehlung qualifizieren.
Wenn eine Firma beispielsweise einem Kunden Informationen über ein (vorausgewähltes) Produkt gibt und dabei erwähnt, dass dieses Produkt im Vergleich zu seinen Mitbewerbern „Klassenbester“ ist, mehrere Preise gewonnen hat und von bekannten Datenanbietern hoch bewertet wurde usw., dann könnte der Kontext, in dem diese Informationen präsentiert werden, einer persönlichen Empfehlung an einen Kunden gleichkommen.
Kann ein Haftungsausschluss eine Anlageberatung vermeiden?
ESMA gibt zu bedenken, dass eine Firma auch dann, wenn ein klarer, deutlicher und verständlicher Disclaimer angebracht ist, der besagt, dass keine Beratung oder Empfehlung gegeben wird, so angesehen werden könnte, als hätte sie eine Empfehlung für den Kunden abgegeben. Wenn eine Firma beispielsweise erklärt, dass ihr Produkt für die Bedürfnisse eines bestimmten Kunden geeignet ist, würde die Aufnahme eines Haftungsausschlusses, der besagt, dass es sich nicht um eine Beratung handelt, den Charakter der Mitteilung wahrscheinlich nicht ändern.
Hat eine Firma nicht die Absicht, eine Beratung durchzuführen, muss sie sicherstellen, dass beispielsweise ihre internen Systeme und Kontrollen sowie die Schulung ihrer Mitarbeiter dies angemessen widerspiegeln.
Sind Empfehlungen, die über das Internet, soziale Medien usw. abgegeben werden, als ausschließlich an die Öffentlichkeit gerichtet zu betrachten?
Diese Abgrenzung ist nicht so einfach durchzuführen bzw. einzelfallbezogen durchzuführen. ESMA führt aus, dass eine Empfehlung zu Finanzinstrumenten, die über Internet-Websites, Anlage-Apps und/oder soziale Medien (einschließlich durch Influencer) abgegeben wird, in bestimmten Fällen als persönliche Empfehlung und nicht als ausschließlich an die Öffentlichkeit gerichtet angesehen werden kann.
Kann eine Nachricht, die an mehrere Kunden geschickt wird, z. B. durch E-Mails, private Nachrichten oder Briefe, als Anlageberatung angesehen werden?
Ja, auch wenn viele Nachrichten, die an eine Vielzahl von Kunden geschickt werden, wahrscheinlich keine Anlageberatung darstellen, bedeutet die Tatsache, dass eine Empfehlung an mehrere Kunden gerichtet wird, für die ESMA nicht automatisch, dass es sich nicht um eine persönliche Empfehlung handeln kann.
Externer Link zum Supervisory briefing on understanding the definition of advice under MiFID II