Warum schmutzig investieren gut fürs Klima sein kann
Die Finanzindustrie soll Kundengelder verstärkt in nachhaltige Investitionen umlenken. Denn nicht nur die Politik muss im Kampf gegen den Klimawandel dringend Kapital mobilisieren. Also fließt zunehmend privates Kapital in Unternehmen, die im Sinne der EU-Taxonomie als nachhaltig gelten. Kommt dieses Geld bei den Richtigen an? Erzielt es bei bereits „sauberen“ Unternehmen die größtmögliche Wirksamkeit für Umwelt und Klima? Oder benötigen nicht eher jene Unternehmen frisches Kapital, die ihre grüne Transformation noch vor sich haben? Die EU-Taxonomie steht sich hier selbst im Weg.
In der EU-Offenlegungsverordnung erkennt die EU-Kommission, dass sich Europa zunehmend mit den katastrophalen und unabsehbaren Folgen des Klimawandels, der Ressourcenverknappung und anderer nachhaltigkeitsbezogener Probleme konfrontiert sieht. Sie verpflichtet daher die Finanzindustrie Kapital für nachhaltige Investitionen zu mobilisieren.
Was eine nachhaltige Wirtschaftstätigkeit ist, bestimmen aber weder Produktanbieter oder Finanzberater noch Umweltaktivisten oder Klimatologen – und schon gar nicht der Anleger, um dessen Kapital sich alles dreht. Das macht der europäische Gesetzgeber. Für diesen gilt eine Investition in eine wirtschaftliche Tätigkeit dann als nachhaltig, wenn diese zum Erreichen eines Umweltziels oder eines sozialen Ziels beiträgt, und die Unternehmen mit guter Unternehmensführung glänzen.
Nachhaltige Investitionen
Nachhaltig sind Unternehmen folglich dann, wenn sie bereits heute Energie, Rohstoffe, Wasser und Boden effizient nutzen, Ungleichheiten bekämpfen, die soziale Integration fördern, ihre Mitarbeiter gerecht entlohnen und alle Steuervorschriften einhalten. Vorausgesetzt, die schon gesetzten nachhaltigen Maßnahmen beeinträchtigen kein jeweils anderes Umweltziel erheblich.
Bewertungskriterien, die für Asset Manager und Investoren unverzichtbar sind, um wirtschaftlichen Tätigkeiten im Sinne der Definition als nachhaltig zu klassifizieren, gibt es bis heute – zweieinhalb Jahre nach Anwendung der EU-Offenlegungsverordnung – nur für zwei von sechs EU-Umweltzielen. Für die restlichen vier Umweltziele sollen sie bis Anfang 2024 folgen.
Soziale Ziele und Aspekte der guten Unternehmensführung fehlen weiterhin. Diese Versäumnisse der europäischen Politik sind ein wesentlicher Hemmschuh für EU-konformes nachhaltiges Investieren.
Erhebliche Beeinträchtigung
Der Nebensatz in der Definition „vorausgesetzt, dass diese Investitionen keines dieser Ziele erheblich beeinträchtigen“ sorgt für Unsicherheiten. Denn niemand weiß, was eine erhebliche Beeinträchtigung genau ist. Eine nähere Beschreibung suchen wir in den EU-Regelwerken, die wahrlich nicht sparsam sind mit Begriffsdefinitionen, vergeblich. Voraussichtlich werden erst Gerichtsurteile als Folge von „Greenwashing-Klagen“ einzelne Fallbeispiele aufzeigen, an denen sich Investoren orientieren können.
Denken wir zur Veranschaulichung an große, deutsche Automobilhersteller. Diese wollen in Zukunft viel mehr oder sogar ausschließlich Elektroautos produzieren. Denn Elektroautos sind für die EU ein Schlüssel zur grünen Wende, also nachhaltig, weil sie zum Erreichen von Umweltzielen beitragen. Nach wie vor erzielen diese Automobilkonzerne aber den Großteil ihres weltweiten Umsatzes mit dem Verkauf von Kraftfahrzeugen mit Verbrennungsmotor. Diese verursachen beim Verbrennen von fossilen Treibstoffen wie Benzin und Diesel viele Millionen Tonnen CO2 und schädigen das globale Klima.
Stellt dieser überproportional große „fossile Umsatzanteil“ eine erhebliche Beeinträchtigung von Umweltzielen dar, die mit Elektroautos erreicht werden sollen? Müssten Automobilhersteller, um als nachhaltiges Investment in Frage zu kommen, nicht gänzlich auf die Produktion von Autos mit Verbrennungsmotor verzichten? Wie grün muss ein Unternehmen sein, um nachhaltig investierbar zu sein? Echte Antworten auf diese Fragen gibt es nicht.
Öl- und Gaskonzerne gelten in nachhaltigen Portfolios als No-Go. Bei den enormen Schadstoff-Emissionen, die deren Produkte weltweit verursachen, gelten Shell & Co. niemals als nachhaltig. Sie erhalten selbst dann kein Kapital aus nachhaltigen Investments, wenn sie in der afrikanischen Wüste riesige Solarparks zur Stromerzeugung oder für die Gewinnung von flüssigem Wasserstoff bauen (es sei denn, sie gründen dafür eine vom Ölgeschäft getrennte „grüne“ Tochterfirma, die als Unternehmen dann keine erhebliche Beeinträchtigung direkt verantworten muss).
Taxonomie denkt nicht in die Zukunft
Die technischen Bewertungskriterien zur EU-Taxonomie definieren, einfach gesagt, für etwa hundert wirtschaftliche Tätigkeiten, die zusammen etwa achtzig Prozent der europäischen Schadstoff-Emissionen verursachen, Schwellen- und Grenzwerte für deren CO2-Ausstoß. Beispielsweise leistet die Herstellung von Zement einen wesentlichen Beitrag zum Klimaschutz, wenn pro Tonne Zement weniger als 722 Kilogramm CO2-Äquivalent (siehe blauer Kasten) verursacht werden. Hält ein Zementwerk diesen Grenzwert ein, kann es als nachhaltig gelten, und ist im Sinne der Nachhaltigkeit investierbar.
CO2-Äquivalente, kurz CO2e: Um die Klimawirksamkeit der verschiedenen Treibhausgase miteinander vergleichen zu können, werden die einzelnen Treibhausgase (CO2, Methan, Lachgas usw.) auf Basis ihres jeweiligen Treibhausgas-Potentials in CO2-Äquivalente umgerechnet.
Was ist aber mit Zementwerken, die heute noch 900 Kilogramm CO2-Äquivalant pro Tonne Zement ausstoßen, und frisches Kapital dafür verwenden würden, ihre Schadstoff-Emissionen in Zukunft massiv zu reduzieren? Auf Basis der heutigen Bestimmungen kann in dieses Zementwerk nicht nachhaltig investiert werden. Denn gemäß der aktuellen EU-Taxonomie müssen Unternehmen bereits nachhaltig sein, um als ESG-konformes Investment gelten zu können.
More dirty für more green
Ein Blick in Portfolios nachhaltiger Finanzprodukte zeigt, dass auf Basis der geltenden Regeln das meiste „grüne“ Kapital in Unternehmen fließt, die in vielen Bereichen bereits nachhaltig sind. Wirksam im Kampf gegen den Klimawandel wären aber – oder insbesondere – Investitionen in CO2-intensive Wirtschaftstätigkeiten bzw. Unternehmen, die erst am Anfang ihrer nachhaltigen Entwicklung stehen und mit frischem Kapital ihre Dekarbonisierung wirksam und nachweisbar vorantreiben. Noch dazu schneller und in größerem Ausmaß als dies CO2-arme Unternehmen von hohem Niveau aus noch können.
Die EU plant die Taxonomie zu überarbeiten, um diese Missstände zu beheben. Sie hat erkannt, dass nicht nur Unternehmen, die heute bereits nachhaltig sind, frisches Kapital für weitere Innovationen benötigen, sondern insbesondere jene, die noch große Schritte in Richtung ihrer (oft teuren) nachhaltigen Entwicklung vor sich haben.
Kommen diese Änderungen tatsächlich, werden sich in den Portfolios von nachhaltigen Finanzprodukten wahrscheinlich vermehrt schmutzige Branchen und Unternehmen wiederfinden, die bis dato eher nicht als klimafreundlich bekannt sind. Werden sich nachhaltig orientierte Anleger von der Strategie „Investiere schmutzig für mehr Klimaschutz“ überzeugen lassen? Das bleibt abzuwarten.
Dieser Artikel erschien erstmals im Magazin risControl Ausgabe 09 2023.