Sind Rüstungsunternehmen nachhaltig im Sinne der EU-Taxonomie?
In einem Entwurf einer Mitteilung zu Auslegung und Anwendung von Bewertungskriterien für wirtschaftliche Tätigkeiten, die einen Beitrag zu den EU-Umweltzielen leisten, wird die EU-Kommission gefragt, wie sich die gesetzlichen Bestimmungen auf den Zugang der Rüstungsindustrie zu privaten Finanzmitteln anwenden lässt. Die Antwort klingt ebenso opportunistisch wie menschenverachtend.
Bereits in der Mitteilung vom 15. Februar 2022 (also noch vor Beginn des Ukraine-Konflikts) über die europäische Verteidigung (KOM(2022) 60) betont die EU-Kommission, dass im Rahmen der Initiativen für eine nachhaltige Finanzierung auch die europäische Verteidigungsindustrie ausreichenden Zugang zu Finanzmitteln und Investitionen benötigt.
In ihrer aktuellen Antwort vom 19. Dezember 2022 (also nach Monaten des Ukraine-Konflikts) anerkennt die EU-Kommission die Notwendigkeit, dass insbesondere die Verteidigungsindustrie, die zur Sicherheit der europäischen Bürger beiträgt, ihren Zugang zu Finanzmitteln und Investitionen auch aus dem privaten Sektor sicherstellen muss.
Vor der Taxonomie sind alle Unternehmen gleich
Der EU-Rahmen für nachhaltige Finanzierung sieht keine Beschränkungen für die Finanzierung eines bestimmten Sektors vor. Wie jede andere Branche können auch Rüstungsunternehmen Taxonomie-konforme Investitionen tätigen, die dem Erreichen eines Umweltziels dienen, wie beispielsweise Investitionen in die Ökologisierung ihrer Gebäude oder Investitionen im Bereich Transport, Datenlösungen und Produktion.
Ausgeschlossen sind gemäß den technischen Regulierungsstandard RTS zur Offenlegungs-Verordnung lediglich Investitionen im Zusammenhang mit vier Kategorien kontroverser Waffen (das sind Antipersonenminen, Streumunition, chemische und biologische Waffen). Für den restlichen Teil der RTS sind die Anforderungen identisch mit jeden anderer Industriesektoren.
Ebenso gelten die Vorschriften hinsichtlich der Abfrage der Nachhaltigkeitspräferenzen gemäß MiFID und IDD für alle Branchen gleichermaßen. Daher verhindern sie auch keine Investitionen in einen bestimmten Sektor. Die wichtigsten nachteiligen Auswirkungen, die bei dem Finanzprodukt berücksichtigt werden, betreffen nur die oben genannten umstrittenen Waffen.
Übersieht die EU-Kommission (bewusst?) einen zentralen Aspekt?
Im Mai 2022 hat die EU-Kommission eine Studie in Auftrag gegeben, die einen Überblick darüber liefern soll, wie die Aktivitäten der europäischen Verteidigungsindustrie in Bezug auf Umwelt-, Sozial- und Governance-Kriterien (ESG) zu messen und zu vergleichen sind. Auch eine Analyse des Beitrags des Rüstungssektors zu den ESG-Zielen soll erfolgen. Auf die Ergebnisse dürfen wir gespannt sein.
Laut Artikel 2 Ziffer 17 der Offenlegungs-Verordung ist die Investition in wirtschaftliche Tätigkeiten nachhaltig, wenn die Tätigkeit zum Erreichen eines Umweltziels oder zum Erreichen eines sozialen bzw. gesellschaftlichen Ziels beiträgt und die Unternehmen, in die investiert wird, Verfahrensweisen einer guten Unternehmensführung anwenden.
Soweit, so gut, diese Bedingungen können grundsätzlich Unternehmen aus allen Industriesektoren – manche mehr, manche weniger – erfüllen.
Eine wesentliches Detail dieser Definition aus einer geltenden EU-Verordnung lässt die EU-Kommission in ihrer Antwort jedoch (bewusst oder unbewusst?) unter den Tisch fallen: die Investition darf gleichzeitig keines der verfolgten Umweltziele oder sozialen Ziele erheblich beeinträchtigen.
Sind die enormen Schadstoffemissionen (Treibhausgase, Feinstaub, usw.), die mit dem Einsatz von Waffen, Panzern, Kampfflugzeugen, Raketen, usw. einhergehen, und das unfassbare Leid und Sterben der Menschen, das kriegerische Handlungen unweigerlich mit sich bringen, für die EU-Kommission keine erheblichen Beeinträchtigungen von Umweltzielen und gesellschaftlichen Zielen?
Oder anders gefragt: wenn das noch keine erheblichen Beeinträchtigungen von angestrebten ESG-Zielen sind, was macht Beeinträchtigungen solcher Ziele dann erheblich!? Wie muss eine erhebliche Beeinträchtigung aus Sicht der EU-Kommission aussehen!?
Als ausgebildeter Nachhaltigkeitsmanager, der über den politischen Tellerrand von Sustainable Finance hinausblickt, ist mir klar, dass es weder 100 % nachhaltige noch 100 % nicht-nachhaltige Unternehmen gibt. Reines Gut-und-böse-Denken verschleiert vielfach den Blick auf die Realität. Im Sinne der Nachhaltigkeit können auch verpönte Branchen, wie Glückspiel- und Tabakkonzerne oder Atomkraftwerksbetreiber, wirksame Beiträge zu Klima- und Umweltschutz leisten (nicht nur im Sinne der EU-Kriterien, sondern de facto).
Dass die EU-Kommission im Hinblick auf die Rüstungsindustrie – inbesondere angesichts der erschütternden Berichte und Bilder, die uns seit fast einem Jahr tagtäglich aus der Ukraine erreichen – keine erheblichen Beeinträchtigungen erkennt, klingt nach menschenverachtendem Opportunismus. Zwar ist die EU dafür bekannt, dass sie ihre eigenen Regeln bei erstbester opportuner Gelegenheit über Bord wirft, für mich persönlich hätte sie aber – wenn es diese Antwort aus dem Entwurf in die finale Version der Mitteilung schafft – die rote Linie überschritten.
Quellen:
DRAFT COMMISSION NOTICE on the interpretation and implementation of certain legal provisions of the EU Taxonomy Climate Delegated Act establishing technical screening criteria for economic activities that contribute substantially to climate change mitigation or climate change adaptation and do no significant harm to other environmental objective vom 19. Dezember 2022