Der Green Deal der Europäischen Union, verbunden mit den Plänen zur Finanzierung von nachhaltigem Wachstum, führen zu einem Boom bei „grünen“ Finanzprodukten. Deren Zahl hat sich in den letzten Monaten vervielfacht. Über regen Zulauf erfreuen sich auch die Anbieter von ESG-Siegeln, die es Anlegern unter anderem einfacher machen sollen, „grüne“ von „schmutzigen“ Anlageprodukten zu unterscheiden. Ein Blick hinter den nachhaltigen Anstrich offenbart auch Überraschendes.
Wie „nachhaltig“ Finanzprodukte auf Basis der gesetzlichen Bestimmungen tatsächlich sind, habe ich bereits beschrieben („Wie nachhaltig sind „grüne“ Finanzprodukte wirklich?„). Schon diese Betrachtung zeigt, dass ein Blick auf die Details – sowohl für Anlageberater als auch Anleger – ratsam ist. Ähnliches zeigt sich bei einem Blick auf Investmentfonds, die von einem ESG-Siegel geadelt werden.
Warum überhaupt ESG-Siegel?
Produktanbieter legen – freiwillig, zum Beispiel im Marketing, sowie in Erfüllung ihrer gesetzlichen Pflichten – sämtliche nachhaltigen, grünen usw. Merkmale ihrer Finanzprodukte offen. Wird ein Finanzprodukt durch ein oder sogar mehrere ESG-Siegel noch grüner? Nein, das nicht. Ein externes Rating bewertet „nur“ die ohnehin vorhandenen Merkmale eines Finanzproduktes.
Die Produkthersteller erhoffen sich dadurch augenscheinlich noch mehr Aufmerksamkeit, die Bestätigung ihrer „grünen“ Anlagestrategie durch externe Experten sowie das Hochstufen ihrer Produkte in Nachhaltigkeits-Rankings und den nachhaltigen Auswahlprozessen von Anlageberatern und Portfolioverwaltern. Die ESG-Siegel-Anbieter freut´s. Sie machen mehr Geschäft denn je. Zumal sich der Markt auf einige große Anbieter konzentriert.
ESG-Siegel ist nicht gleich ESG-Siegel
Jedes ESG-Siegel basiert auf anderen Bewertungsansätzen. Alleine aus dem Herkunftsland können sich schon Unterschiede ergeben. Beispielswiese setzen Anbieter aus Österreich und Deutschland für den Erhalt ihres Siegels voraus, dass Produktanbieter in ihren Investments Atomenergie ausschließen. Französische Anbieter haben bei Atomenergie allerdings weniger Berührungsängste. Schon bald wird sich übrigens herausstellen, ob sich EU-Mitgliedstaaten wie Frankreich durchsetzen, und Atomenergie – entgegen aller Ablehnung in Deutschland und Österreich – von der EU als „nachhaltig“ eingestuft wird.
Besonders strenge Ausschlusskriterien hat ein ESG-Siegel aus Österreich. Nicht nur Atomenergie wird ausgeschlossen, sondern auch Waffen, Tabak, Alkohol, Glückspiel und fossile Energieträger. Aktien wie jene eines Brauereikonzerns, eines Flughafenbetreibers und einer Fluggesellschaft, die Aktie eines Kohlekraftwerk-Betreibers und jene eines Herstellers von Diesel- und Gasmotoren finden sich dennoch in den ausgezeichneten Investmentfonds wieder. Dazu reicht eine kurze Recherche im Internet bzw. ein Blick in Rechenschaftsberichte, in denen stets eine detaillierte Vermögensaufstellung enthalten ist. Aber wie kann das sein?
Zweifelhafter Best-in-Class Ansatz
Möglicherweise durch den so genannten Best-in-Class Ansatz des Fondsmanagers, der auch von ESG-Siegeln akzeptiert wird. Dabei wird, wie der Name schon sagt, in die jeweils besten – „grünsten“, „nachhaltigsten“ – Unternehmen einer Kategorie bzw. Branche investiert. Innerhalb eines Marktsegments werden die potentiellen Investitionsziele nach deren ESG-Merkmalen gereiht. Die „grünsten“ ganz nach oben, die „schmutzigen“ nach unten.
Dieses Spielchen lässt sich mit jeder Branche machen: Konsumgüter, Autohersteller, Energieproduzenten (inkl. Atomenergie), Tabak-, Glückspiel- und Brauereikonzernen, Fluglinien, und so weiter und so fort. In jeder Branche gibt es Unternehmen, die weniger klima- und umweltschädlich agieren als der Rest in der jeweiligen Kategorie. Diese Bestgereihten sind dann „Best-in-Class“ und qualifiziert für das „grüne“ Investment. Nicht umsonst hat der Best-in-Class Ansatz nicht nur Befürworter.
Europaweites ESG-Siegel
Die Europäische Kommission hat bereits erkannt, dass ein wahrer Dschungel an verschiedenen Nachhaltigkeitssiegeln entsteht. Die größer werdende Vielfalt an ESG-Siegeln führt allerdings nicht dazu, dass es für Finanzdienstleister und deren Kunden einfacher wird, grüne Finanzprodukt von weniger grünen zu unterscheiden. Eher ganz im Gegenteil. Also gibt es seitens der EU schon Bestrebungen, ein einheitliches europäisches Nachhaltigkeits-Gütesiegel einzuführen und zu etablieren. Ob ausgerechnet dieses Siegel die geschilderten Herausforderungen lösen kann, bleibt abzuwarten.
Wer sich als Anleger ein echtes Bild davon machen möchte, ob und wie grün oder nachhaltig ein Finanzprodukt tatsächlich investiert, wird den grünen Anstrich etwas abkratzen und selbst einen Blick auf die dahinter liegenden Details werfen müssen.
Ein Hinweis für Finanzdienstleister und Anlageberater: schmückt sich ein Finanzprodukt mit einem oder mehreren ESG-Siegeln, dann heißt das nicht automatisch, dass das jeweilige Finanzprodukt auch den strengen EU-Kriterien bezüglich nachhaltiger Investitionen entspricht (Stichwort Taxonomie).